II. Olympische Winterspiele 1928
Februar 1928: Die «Roaring Twenties» brummen, die Wirtschaft floriert, das Auto wird zum Massenartikel, Jazz zum neuen Lebensgefühl. Hier in St. Moritz trifft man sich aber, um sportliche Wettbewerbe abzuhalten, die anderswo noch immer ein Kopfschütteln hervorrufen würden.
Seit Jahrzehnten sieht man in St. Moritz schon englische Gentlemen Bobbahnen bauen oder über Skischanzen springen. Und diese so zweckfrei erscheinenden, aber unterhaltsamen Aktivitäten unterstützt man auch schon längst. Für die II. Olympischen Winterspiele 1928 baut man nun für 257 000 Franken eine Olympiaschanze, insgesamt investiert man rund 700 000 Franken in die Durchführung der Winterspiele.
Amateursportler aus aller Welt, respektive aus 25 Nationen, treffen nun in St. Moritz ein, um sich in sechs Sportarten miteinander zu messen. Zu ihrer grössten Herausforderung wird allerdings das Wetter: Mitten in den Spielen meint es die legendäre St. Moritzer Sonne zu gut mit den Athleten, es wird 25 Grad warm. Die Langläufer kommen im nassen Schnee kaum mehr vorwärts, erst recht nicht die Norweger, die allesamt auch noch das falsche Skiwachs gewählt haben. Und der Eiskunstlauf wird zum Schaulaufen zwischen Wasserlachen.
Der Sommereinbruch im winterlichen Engadin bringt das ganze Programm durcheinander, der Eisschnelllauf über 10 000 Meter fällt sogar ganz aus. Und dennoch: Die II. Olympischen Winterspiele 1928 zählen bereits knapp 40 000 begeisterte Zuschauer. Und ganz eigentlich sind sie auch die ersten eigenständigen Winterspiele, denn die Wettbewerbe der «Internationalen Wintersport-Woche» von Chamonix 1924 werden erst rückwirkend zu Olympischen Winterspielen erklärt.
Der Weltkurort St. Moritz wird während der Winterspiele sogar gleich selbst zum olympischen Dorf. Die rund 500 Sportler und gut 500 Offiziellen und Pressevertreter sind in Hotels einquartiert und nicht etwa, wie bei späteren Spielen, in einer Zeltstadt oder einem Camp untergebracht. Und da die Athleten auch noch keine millionenteuren Sponsorenverträge haben und mit dem Sport überhaupt nichts verdienen, gibts Übernachtungspreise zwischen 10 und 18 Franken …
Skeleton
olympische Spiele 1928
Freitag, 17. Februar 1928: Der 11. Earl of Northesk sitzt auf einer Parkbank und sammelt sich. Gleich neben ihm bereitet sich Jennison Heaton auf das Skeleton-Rennen vor. Nach drei Läufen werden zwischen dem Briten und dem Amerikaner nur 3,3 Sekunden liegen. Aber vor dem Earl werden sich dann gleich zwei Heatons befinden: Jennison Heaton gewinnt das Skeleton-Rennen, sein jüngerer Bruder John Rutherford Heaton holt Silber.
Dabei hat der 11. Earl of Northesk erst vor wenigen Tagen einen Rekord auf dem Cresta Run, der Skeleton-Strecke, aufgestellt. Heute aber gerät er in einer Kurve zu hoch hinauf, muss abbremsen und verliert wertvolle Zeit. Damit ergeht es dem Earl, David Ludovic George Hopetoun Carnegie mit ganzem Namen, allerdings noch besser als dem Franzosen Pierre Dormeuil und dem Schweizer Willy von Eschen. Beide kriegen sie eine Kurve nicht und werden aus der Bahn hinausgetragen.
Zufallssieger sind die Heaton-Brüder aber nicht. Jennison Heaton saust am Samstag durch den benachbarten Bobsleigh Run hinab und gewinnt mit USA I Silber. Und John Rutherford Heaton gewinnt 20 Jahre später, an den V. Olympischen Winterspielen in St. Moritz, erneut Silber.
Historisches: Die Skeleton-Strecke Cresta Run wird seit dem Winter 1884 / 1885 jährlich aus Schnee erbaut und vereist.
Sprachliches: Da die Bahn und die Sportart britischen Ursprung haben, wird noch heute traditionell Englisch gesprochen.
Maximales: Die Fahrer erreichen heute Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 140 km/h.
Exklusives: In den Shuttlecock Club wird aufgenommen, wer aus der gleichnamigen Kurve in die Abflugzone hinausgetragen worden ist.
Sieger
Freitag, 17. Februar 1928
1. Jennison Heaton (USA), 181,8 s
2. John Rutherford Heaton (USA), 182,8 s
3. David Ludovic G. Carnegie (GBR), 185,1 s
(jeweils Gesamtzeiten von drei Läufen)
Bob
olympische Spiele 1928
Samstag, 18. Februar 1928: Was für eine Mannschaft! William Mead Lindsley Fiske, der Steuermann, ist gerade mal 16 Jahre alt. Nion Robert Tucker dagegen ist ein gestandener Unternehmer, Geoffrey Travers Mason wiederum noch Student. Richard Averell Parke hat bereits im ersten Weltkrieg gekämpft und Clifford Barton Gray ist eigentlich nur dabei, weil er grad in St. Moritz weilt.
«Head first» sausen diese fünf Amerikaner durch den Bobsleigh Run von St. Moritz nach Celerina hinab. Kopfvoran also. Oder wie man diesen Stil auf Französisch zu nennen pflegt: «ventre à terre». Nach zwei Läufen ist klar: Die Charakter-Mannschaft USA II gewinnt. Vor dem Team USA I, dessen Steuermann Jennison Heaton gestern Freitag gerade Olympiasieger im Skeleton geworden ist.
Geplant waren an diesen Winterspielen eigentlich vier Läufe, je zwei am Donnerstag und am Freitag. Das frühlingshafte Wetter am Mittwoch hat aber zu zahlreichen Programmänderungen geführt und auch dem Bobsleigh Run zugesetzt. Spektakulär ist das Rennen aber allemal. Und nicht ungefährlich: 1929 wird der Stil «ventre à terre» darum auch verboten – und Sturzhelme werden ab da Pflicht.
Historisches: 1903 wird der Bob Run erstmals gebaut und am 1. Januar 1904 eingeweiht, damit ist der Bob Run die älteste noch bestehende Bobbahn der Welt und zugleich die einzige Natureisbahn.
Voluminöses: Für den Bau der Natureisbahn werden im Herbst jeweils rund 15 000 Kubikmeter Schnee benötigt, die Bahn gilt damit als grösste Schneeskulptur weltweit.
Gästefreundliches: Auf dem Bob Run werden heute auch Gästefahrten angeboten.
Sieger Fünfer-Bob
Samstag, 18. Februar 1928
1. USA II (Fiske, Tucker, Mason, Gray, Parke), 03 : 20,5 Min
2. USA I (Heaton, Doe, Granger, Hine, O’Brian), 03 : 21,0 Min
3. GER II (Kilian, Krempel, Heß, Huber, Nägle), 03 : 21,9 Min (jeweils Gesamtzeit von zwei Läufen, zwei weitere Läufe entfielen)